Geisterinsel

“Geisterinsel”

Seit gut einer Woche gilt, wie in ganz Spanien, auch auf unserer Insel die Ausgangssperre. Ich muss zugeben, eine Grundanspannung habe ich immernoch, wenn ich, wie gerade eben, zum MERCADONA gehe. Leo darf nicht mit, sitzt zu Hause und lernt für die mündlichen Abi-Prüfungen, von der noch keiner weiß, wie sie ablaufen sollen.
Glücklicherweise sin d die drei schriftlichen schon erledigt. Wenigstens etwas.
Draußen muss ich warten, weil nur eine gewisse Anzahl von Kunden in den Supermarkt hinein darf. Schlückchenweise sozusagen. Ich darf den Rotwein nicht vergessen!
In gebührendem Abstand zu mir warten andere Kunden. In unterschiedlicher Grundstimmung. Eine ältere Frau lächelt mich an und ein Señor schaut grummelig in die Gegend. Das kleine Mädchen fragt ihrer Mama Löcher in den Bauch. Alles scheint ganz normal. Nur eine andere Frau sprüht sich die Hände mit Desinfektion ein. Ob das auch so teuer war wie meine 25 ml für 7 Euro, die ich vor ein paar Tagen in der Apotheke erstanden hatte? 
Nach dem Einlassen muss ich an die “Desinfektions-Tankstelle”, um an meinen Händen und der “Handstange” des Einkaufskorbes eventuelle Krankheitskeime zu verscheuchen. Es ist Vormittag, die Gemüse-und Obstabteilung gut gefüllt, nur meinen geliebten frisch gepressten Orangensaft aus dem Selbstbedienungs-Automaten gibt es nicht mehr. Alle Regale sind voll, nur in der Abteilung für Hülsenfrüchte, Reis und Nudels gibt es Lücken im Warenangebot. Es gibt heute nur Vollkornreis. 
Erinnert mich an bisschen an die HO-Kaufhallen vor 1990 mit den hübsch drapierten Weiß-und Rotkohl-Köpfen in der Gemüseabteilung und den sehr locker bestückten Regalen. Ach nein, Kartoffeln und Zwiebeln hatte es auch immer gegeben! Und wer brauchte schon 5 verschiedene Mehlsorten oder 8 unterschiedliche Arten von Nudeln?
Hier ist allerdings alles recht gut aufgefüllt. Einzelne Sachen sind zwar ausverkauft, aber nichts Lebensnotwendiges fehlt. Schnell habe ich alles zusammengesammelt, was wir benötigen. Morgen gibt es gebratenen Lachs mit Salat und Vollkornreis. Lecker.
Vor der Kasse steht plötzlich eine Frau mit einem sehr vollen Korb hinter mir und spricht mich an, zeigt auf das Band und will an mir vorbei. Ich verstehe nicht ganz, was sie will. Dann erklärt sie auf Englisch, dass ihre Tochter (mit genauso einem übervollen Korb) vor mir stünde und sie dazugehören würde. Wie jetzt? Die will sich vordrängeln? Ja! Sie nickt zufrieden, als sie merkt, dass ich verstehe. Ich rolle innerlich die Augen. Na gut, vielleicht auch äußerlich. Und lasse Frau Hamster vorbei. Früher war ich nicht so geduldig und hätte zumindest eine Bemerkung in ihre Richtung gemacht. Nö, habe keine Lust auf Diskussion. Ich! Die ganze Situation trägt auch dazu bei, Geduld zu üben. Schau an!
Draußen steht die Polizei und kontrolliert, dass die Alarm-Anweisungen eingehalten werden. Sein Auto darf nur der Besitzer fahren. Allein. Und auch einkaufen gehen darf man nur einzeln. Neu ist, dass man sein Kind mitnehmen darf.
Auf der anderen Straßenseite führt eine Frau ihre zwei Hunde spazieren. Das ist auch erlaubt und ich überlege, ob wir nicht einen Hund besorgen könnten. 
Aber erstmal brauche ich einen Kaffee! 
Zu Hause angekommen genieße ich den und denke an gestern, an meinen Besuch in der “clinica roca”. Ich war mit dem Taxi gefahren. Weil unser Bus nicht mehr bis dahin fährt wie sonst an Wochentagen, alle Fahrpläne sind reduziert worden. Taxis befördern nur noch Einzelpersonen. Die Hinfahrt war schwierig, der Taxifahrer hatte einen Mundschutz und ich konnte ihn kaum verstehen. Zuerst war er etwas reserviert. Bis ich ihm erzählte, dass ich nicht krank wäre, sondern lediglich zum Röntgen müsse. Fuss gebrochen und operiert vor einem halben Jahr. Aha! Und die Schulter muss ins MRT. Keine Angst vor der engen Röhre? Geht so...
Ich hatte mich wieder gewundert, wie leer das Krankenhaus gewesen war. Wie ein Geisterhaus. Glücklicherweise war Carmen an der Rezeption. Seit meinen vielen Physiotherapie-Behandlungen dort im letzten Jahr war sie fast schon eine Freundin geworden. “Hola mi amiga!”, begrüßte sie mich, und meinte, ich müsse ein paar Minuten warten. Die wenigen Patienten, die warteten, trugen Mundschutz. Carmen und ich nicht. Waren die alle krank und wollten ihre Viren nicht versprühen? Eine Frau hielt sich einen Schal vor den Mund und versuchte, ihren Arm um zwei Meter zu verlängern, damit sie Carmen ihre Versicherungskarte überreichen konnte. Ob DIE desinfiziert worden war? Manche Szenen in diesen Tagen erscheinen wie aus Komödien, andere wie aus Horrorfilmen. 
Tiempo loco. Verrückte Zeit.
Die Radiologie-Abteilung schien so ausgestorben, dass ich, wie mir vorher befohlen worden war, sämtliche Oberbekleidung ablegte und “oben ohne” über den Flur marschierte. 
Die Röntgenschwester schaute mich an als hätte sie ein Gespenst gesehen und schob mich, versuchend, alles auf Englisch zu erklären, wieder in die Umkleide-Toilette zurück. Dort lagen in einem Regal blaue Papier-Kittel zum Überziehen. Hatte ich nicht gewusst. 
Danach hatten Röntgen und MRT fast problemlos geklappt. Nur das laute Hämmern des Tomographen war etwas schauerlich gewesen, ich hatte geschwitzt, mich in der Röhre wie eine Weihnachtsgans gefühlt und während der 20 Minuten Magnetresonanz die Augen geschlossen gehalten und versucht, an schöne Dinge zu denken. Strand! Meine geliebten Dünen! Alles passé im Moment. Nicht ein einziger Mensch würde momentan dort sein.
Die gefräßigen Tauben würden die Welt nicht verstehen!
Endlich wieder draußen, kam langsam die Abenddämmerung, aber kein Taxi. Draußen vor dem Krankenhaus waren eigentlich immer welche. Würde ich die 8 Kilometer nach Hause jetzt laufen müssen? Ein besetztes Taxi hielt an und der Fahrer signalisierte mir, ein Kollege würde gleich kommen. Sehr gut! 
Aus Richtung San Agustin näherte sich ein Polizeiauto. Würde es vorbeifahren? Nein! Tat es nicht. Der behandschuhte Polizist kurbelte das Fenster herunter, zeigte auf mich und zuckte fragend die Schultern. Wollten sie mich nach Hause bringen? Er schaute mich weiterhin fragend an und zog die Augenbraue in die Höhe. Ich versuchte, meine Situation zu erklären: “Espero el taxi...el taxista dice un compañero viene en dos minutos...vale?” Und war mir in dem Moment wieder bewusst, wie rudimentär mein Spanisch noch war. Trotzdem war ich auch stolz auf das, was ich in den zweieinhalb Jahren hier schon gelernt hatte. Ja, super! Der Polizist nickte und zeigte mir seinen “vale-Daumen”. Alles okay! 
Im Westen über Playa del Inglés sah ich bereits die Sonnen untergehen, eine samtige Atmosphäre begann sich über die Insel zu legen. Das Taxi kam, ich musste hinten einsteigen. Dieser Taxifahrer hatte keine Maske auf und fing an, sich mit mir zu unterhalten, während wir Richtung Heimat fuhren. Alle Hotels links von uns, direkt am Meer, wirkten ausgestorben. Keine Lichter in den Fenstern der Hotels, und auch keine Touristen waren auf den Straßen. Eine Plastiktüte war knallend direkt gegen unsere Windschutzscheibe geweht. Wie in den Geisterstädten der alten Westernfilme. 
Nur wehten dort keine Plastiktüten! 
Der nette Fahrer ist Canario, wohnt in Agüimes und meinte, bis übermorgen müssten wohl alle Hotels geschlossen sein. Er ist etwas älter als ich und hatte solch eine Situation nicht einmal annähernd erlebt in seinem bisherigen Leben. Gab es Touristen, die nicht mehr nach Hause kommen würden? Ich glaubte das nicht, denn zumindest von vielen Ländern waren große Anstrengungen unternommen worden, die Menschen wieder nach Hause zu bringen.
Aber er meint, im Moment wären wohl noch um die 20.000 auf der Insel. 
In diesem Moment hatte sich mein Telefon gemeldet und René, unser Schweizer Freund, hatte mir ein Foto von unserem Restaurant im ANEXO geschickt, wo wir uns schon so oft getroffen hatten. Menschenleer, wie verlassen. Alle Restaurants in der sonst so belebten “Touristen-Meile” wirkten wie eine Szene aus dem Gruselfilm “Shining”.
Was wahrscheinlich an der grauen Wolke lag, die über der Szene hing. Selbst das Wetter war umgeschlagen, kühl und windig war es geworden. 
Señor Agüimes meinte, seine Familie hätte sich eingerichtet zu Hause. In der Garage unter seiner Wohnung würden ein paar Sportgeräte stehen. Seine Arbeitszeit hatte sich stark reduziert, er arbeitete nun nur noch an jedem zweiten Tag. Ob er Angst hätte, hatte ich ihn gefragt. Nein! Angst hätte er keine, nur Respekt vor dem Unbekannten. Und er sei der Überzeugung, in vier Wochen würde alles besser sein. 
Wenn er nur Recht behalten würde! Dann wäre der Spuk recht schnell vorbei.
Hallo! Habe ich irgendwo noch einen Wunsch frei? Hört mich eine Fee?
Dann bitte genau das notieren!

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