Herr der Drachen

“Herr der Drachen”

Es waren vier! Einer sah gefährlicher aus als der andere, aber jetzt hingen sie alle gefesselt am Rahmen der Hollywoodschaukel in unserem Garten. 
Willi, mein vierjähriger Enkel und Drachenbändiger hatte sie alle besiegt. 
Heute Vormittag hatten die vier Drachen noch ruhig in ihrer Verpackung in einem Regal unserer Postfiliale geschlummert und nicht ahnen können, welchen Herausforderungen sie sich einige Stunden später würden stellen müssen.
Der Rote, mit den zwei Köpfen, hatte ganz brutal Weintrauben in seine offenstehende Schnauze gedrückt bekommen, die Willi dann mit seinen Lippen vorsichtig wieder aus dem gefährlichen Drachenmaul entfernt und aufgefuttert hatte. Todesmutig.
Der grüne Drachen hatte Feuer gespien und musste in einem Wassereimer gelöscht werden. Dort schwamm er lange verzweifelt herum und versuchte erfolglos, den Rand des Eimers zu erklimmen. Jedesmal, wenn er es fast geschafft hatte, wurde er durch Ritter Willi zurück ins Nass befördert. 
“Du spuckst hier nichts mehr mit Feuer voll!”
Der schwarze, unheimlichste der Vier, hatte riesige Flügel mit einer Spannweite von mindestens 4 Metern. Auf jeder Seite! Er hatte unser Grundstück umkreist und war von Willi mit genau dem Lasso eingefangen worden, mit dem er jetzt an der Hollywoodschaukel fixiert war. “Der Blaue”, wie wir den allerschönsten der von ihnen getauft hatten, war wohl der Klügste. Er hatte sich lange hinter Hecken und Büschen versteckt. Und uns heimlich beobachtet. Bis auch er, als letzter in der Untier-Runde, erwischt und gefesselt worden war. Von Super-Willi, der jetzt stolz seine Gefangenen betrachtete.
Das Kind spielte entspannt und bestens gelaunt, so konnte ich endlich mein großes Steinbeet vom Unkraut und diesen furchtbaren blauen Wucherblumen befreien. Es war Sonntag, mein Mann war schon wieder in Spanien. Und mein “junges” Kind war in den Urlaub nach Wien abgreist, worauf ich etwas neidisch war. Ich genoss die Sonntag-Nachmittags-Ruhe. Aber ich hatte auch noch viel zu tun, wenn ich meinem Mann in einer Woche nach Spanien folgen wollen würde.
Also stieg ich in mein Blumenbeet, während Willi dem blauen Drachen erklärte, dass ihm Weintrauben nicht bekommen würden. Natürlich nicht, ohne die anderen Ungeheuer dabei aus den Augen zu verlieren.
Meine Güte! Was waren diese “Blumen ohne Namen” gewuchert während wir in den letzten Monaten nicht zu Hause gewesen waren! Ich riss immer mehr von ihnen aus, um den darunter nach Licht suchenden Steingartengewächsen etwas Luft zu verschaffen. Dass ich die letzte Ostern gepflanzt hatte, hatte ich schon wieder ganz vergessen. Und diese kleinen niedlichen Kleeblätter mit den gelben Blüten, die eigentlich so schön aussahen, hatten sich verbreitet wie die Pest im Mittelalter! Ach ja, waren denn die Drachen noch gesichert?
Jawohl. Willi hatte alles im Griff und ass dem Roten gerade noch ein paar Weintrauben direkt aus der Schnauze! Sehr geschickt. Am Kind waren keine Bisswunde zu erkennen, stellte ich beruhigt fest.
Ich kämpfte weiter gegen meinen Unglücks-Klee, der regelrecht ausgegraben werden musste, da seine Wurzeln unter der Erde größer und verwucherter waren als die kleinen Pflanzen über der Erde auch nur ahnen ließen.
Wo lag nur meine kleine Schaufel? Und die Handhacke. Ach ja, unter dem großen Haufen herausgerissenem Pflanzen-Sammelsurium. Ich mußte mich recken und meinen Arm ganz lang machen, um meine Hacke zu erwischen. Noch ein kleines Stückchen. Nein! Den großen Stein, den ich so schön in die Mitte des Beetes platziert hatte, mußte ich dabei wohl übersehen haben. 
Mein Schienbein stieß unsanft dagegen und ich verlor die Balance. Sportlich wie ich irgendwann mal war, machte ich einen großen Ausfallschritt, um vom oberen Beet aus über die anderen Steine zu springen und auf dem Gartenweg darunter zu landen.
Der Schritt war zu kurz. Irgendwie landete ich auf der Beetbegrenzung aus Feldsteinen, knickte weg und knallte mit verdrehtem Fuss und nacktem Knie auf unserem schönen, aber sehr harten, Natursteinweg. Das Geräusch, das ich dabei vernahm, hörte sich an wie eine Mischung aus zerreißendem Papier und einer verklemmten Schraube, die jemand in ein Gewinde geworfen hatte, das nun nicht aufhören wollte zu arbeiten und wieder und wieder versuchte, die Schraube mit letzter Kraft wieder auszuspucken. 
Mit Knirschen und Knacken.
Und ich sah echte Sterne als ich auf dem harten Untergrund auftraf. Geschmeidig wie ein Kartoffelsack. Bevor mir schlecht wurde. Vor Schmerz und Schreck. Mein geschockter Blick ging zu meinem jetzt nackten Fuß, der den Gartenschuh schwungvoll im Fallen weggeschleudert hatte. Der sich jetzt anfühlte, als hätte ihn eine riesige Kreatur mit ihren Klauen gepackt und zerquetscht. Oder ein Drache hätte hineingebissen. Er war aber noch dran, und kein Blut war zu sehen. Nur der Schmerz durchströmte mich wie eine heiße Welle, wirbelte Kreislauf, Verdauung und Gedanken durcheinander und nahm mir die Luft. 
Ich hatte das gruselige Knirsch-Geräusch im Ohr und den Gedanken im Kopf, dass da irgendwas richtig kaputt gegangen sein musste. Das Blut schien aus meinem Gehirn zu weichen und der Himmel über mir wirkte mit einem Mal gelblich-grau. War es schon Abend? Ging die Sonne unter? Ich sah Schlieren vor meinen Augen und bekam plötzlich keine Luft mehr. Atmen! Ganz ruhig! Hinlegen! Die hilfreiche Seite meines Gehirns versuchte, meine Panik in den Griff zu bekommen. Ich war allein mit Willi. Ich musste wach bleiben. Ich hörte mich nach ihm rufen. 
Und er kam sofort. Sah mich auf den Steinen liegen und wartete auf meine Kommandos. Ich versuchte, meine Stimme den Schmerz überstimmen zu lassen. “Willi, ich brauche dringend Eis!” Der kleine Drachenbändiger machte auf dem Hacken kehrt, lief zur Tiefkühltruhe ins Gartenhäuschen, die ihm nur allzu gut durch ihren leckeren Inhalt bekannt war und kam im Handumdrehen mit zwei “Flutschfingern” wieder. Die platzierte ich auf den schief wirkenden Fuss und die Schwellung, die langsam zum Vorschein kam. Schnell nahm die Kälte dem Schmerz die Spitze. 
Ich sah, wie mein kleiner Enkel alles genau beobachtete und schickte ihn erneut los, um die großen Kissen von der Hollywoodschaukel zu holen. Als laufendes Riesenkissen kam er sofort zu mir zurück. Willi holte noch zwei andere Kissen und eine kleine Decke. Ich versuchte, alles so zu arrangieren, dass ich liegen konnte. Und langsam bekam ich wieder besser Luft. Willi hatte sich zu mir gelegt und sich angekuschelt. “Mimi, was brauchst du noch?”, hörte ich ihn sagen. Ich biss die Zähne zusammen und schickte ihn mein Telefon vom Gartentisch holen. 
Wen sollte ich anrufen? Eigentlich waren alle viel zu weit weg, es war Sonntag und von Nachbarn war weit und breit nichts zu sehen oder zu hören. Aber anrufen musste ich! Irgendwen. Willi reichte mir mein Telefon und ich versuchte, seine Mama zu erreichen, die mit Freunden zu einem Reitturnier gefahren war. Nichts. Ich hinterließ eine Sprachnachricht mit den neuesten Ereignissen, bemüht, ruhig und gut gelaunt zu klingen, was mir nur bedingt gelang. “Möchtest du was trinken?” fragte Willi und flitzte schon los, um die Wasserflasche vom Tisch zu holen. 
Auch Freundin Andrea ging nicht ans Telefon. Mist! Langsam wurde mir besser und die Schlieren vor meinen Augen wurden weniger. Der Himmel färbte sich langsam wieder blau, mein Atem wurde ruhiger. Nur meine Verdauung war jetzt völlig aus den Gleisen geraten. Ich musste dringend aufs Klo! Aber wie? Ich versuchte aufzustehen, Willi fasste vorsichtig meinen Arm und zog daran. Ich stützte mich an der vermaledeiten Steinkante ab, die sich versuchte bei mir zu entschuldigen, indem sie mir beim Aufstehen half. Beim Versuch, den verletzten Fuß aufzusetzen, sah ich erneut Funken sprühen. “Komm, du schaffst das!”, motivierte mich der kleine Drachendompteur. 
Ja, ich musste es schaffen. Und ich schleppte mich, gestützt auf einen ganz kleinen tapferen Mann, um die Hausecke zu unserem “Garten-Bad”, erreichte im letzten Moment das rettende Örtchen.
Willi, tapfer alles aushaltend, wartete auf mich, um mir dann zum nächststehenden Gartenstuhl zu helfen. Er holte mir die Kühl-“Flutschfinger” vom Gartenweg, kontrollierte nochmal, ob sie richtig drapiert waren. Dann wandte er sich, nachdem ich ihm versichert hatte, dass es mir wieder besser ginge, erneut den gefangenen Ungeheuern zu. Ich fasste langsam wieder Mut, dass ich den heutigen Tag überleben würde. Dank Willi.
Das Telefon klingelte, meine Tochter war schon auf dem Weg.
Als der Krankenwagen dann kam und die Sanitäter staunten, wie gut wir schon wieder gelaunt waren, hätte ich mir gewünscht, sie hätten uns eine Stunde vorher sehen können.
Und vor allem meinen kleinen Enkel, der in die Rolle eines klug überlegenden Helfers geschlüpft war, von dem sich viele Erwachsene eine Scheibe hätten abschneiden können.
Er hatte mich gerettet und eine Medaille verdient.
Neugierig, aber auch etwas besorgt, beobachtete er, wie die Sanitäter mich in den Krankenwagen verfrachteten. Ich strich ihm noch einmal über die Wange. “Das hast du toll gemacht!” 
“Ich weiß”, meinte er, “genau wie Feuerwehrmann Sam!” Er strahlte.
Mir stiegen schon wieder Tränen in die Augen, während das Rettungsfahrzeug langsam Richtung Krankenhaus rollte.
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