Meeresmedaillen


Meeresmedaillen

Ich liebte das Meer seit meiner Kindheit. Es war eines der urwüchsigsten und schönsten Elemente der Natur. Gänsehaut und Faszination hatten sich abgewechselt, wenn ich in vielen Büchern gelesen und Filmen gesehen hatte, wie die Meere der Welt unbändig mit Menschen und Schiffen gespielt hatten. Nicht einmal verwegene Piraten und mutige Schiffskapitäne konnten sich dieser Kraft entziehen. Seefahrer der “Titanic”, “Black Pearl” oder der “Bunten Kuh”, alle hatten sich den Meeren beugen müssen.
Die Urlaube mit meinen Eltern machte die Ostsee erträglich. Und als dann die Mauer gefallen war, suchte ich Wege zum Wasser, wo immer ich sie auch fand.
Heute hatte sich die Sonne nach einer Woche “Calima” wieder heraus gekämpft und mein fast täglichen Morgenweg am Atlantik, 2,5 km bis zur Baustelle und wieder zurück, waren von angenehmem leichtem Wind und gut gelaunten Gesichtern begleitet. 
Genau heute war “Bergfest”. Wir waren jetzt tatsächlich schon 6,5 Wochen hier auf der Insel, würden bis zu unserem Rückflug nach Hause noch viele Entscheidungen treffen und Erfahrungen machen müssen. Und ich resümierte über WAR und WERDEN.
Heute fielen mir die vielfältigen Formen der Wellen auf. Nicht nur, dass sie auf den ersten Blick hoch oder niedrig, stark oder schwach waren. Sie waren laut oder leise, rollten zwar immer an den Strand, aber einmal wurden sie Schaum, einmal viele kleine Bläschen. Ich sah eine Welle, die sich drehte wie ein Strudel. Und zum Schluss, je nachdem wie intensiv eine Welle auf den Strand traf, enthielt sie schwarzen Sand aus dieser Bucht. Wenig Sand machte sie hellgrau und ließ sie ganz leicht wirken. Viel aufgewirbelter Sand machte sie fast schwarz. Sie wirkte dann viel schwerer. Und alle waren verschieden groß. Ich wartete für ein Foto auf eine besonders große. Sie kam nicht.
Als ich bei meiner Strecke über die Steine, weil Flut herrschte, später ein Stück zu nah an die Stelle kam, wo sich die Wellen an den Steinen brachen, kam sie dann plötzlich doch, entwickelte eine starke Kraft und brach mit einem Krachen an den Steinen. Und meine Füße waren nass.
Wie im Leben! Dachte ich. 
Leben ist das Meer! Jeder hatte erstmal seines. 
So wie das Meer seit Ur-Zeiten da war und ist. 
Ja...und die Wellen sind das Leben: mit Schaum, mit kleinen oder großen Bläschen...hoch oder niedrig. Laut oder leise. Mit spitzen Kronen. Ganz ruhig oder auch aufgewühlt. Mit Strudeln. Und unerwarteten Strömungen darunter.
Ich hatte das Gefühl, ich hatte auf meine persönliches Meer nicht viel Einfluss gehabt. 
Viele Dinge waren passiert, manchmal hatte ich Glück gehabt, manchmal eben Pech!
Jetzt nur nicht sentimental werden! Wer hatte es schon so gut wie ich und konnte in DEM Alter 12 Wochen dort verbringen, wo andere Urlaub machten.
Ich kletterte weiter über die Steine, die teilweise von der Flut noch nass waren.
Wie immer beobachtete ich die Menschen, die mir begegneten und freute mich über ein Nicken oder freundliches Lächeln. Eine in meinem Inneren aufgehende Sonne bekam Wolken dazu, wenn ein freundlicher Gruß von mir nicht registriert oder mit einem abweisenden Blick quittiert wurde.
Nachdem ich die Hälfte des Weges erreicht hatte und meine übliche Pause einlegte, fiel mir eine skandinavische Familie auf, die schon so früh mit ihren Kindern am Strand war und enormen Spaß mit Strand und Wellen hatten. Ich mußte laut lachen als ich sah, dass ihnen das Gleiche passiert war, wie mir genau hier schon so oft. Die Wellen waren an dieser Stelle der Bucht kräftiger als woanders und konnten von einer auf die andere Welle plötzlich und völlig unerwartet über deinen Schuhen zusammenschlagen.
Mir fiel auf, dass das eines der Kinder sehr kurze Arme und Beine hatte, der Vater sah mich ernst von der Seite an, so dass ich noch einmal hinsah. Das Kind, vielleicht 8 Jahre alt, war kleinwüchsig. 
Ich setzte meinen Rückweg fort, hoffend, dass der Vater nicht gedacht hatte, ich hätte über sein Kind gelacht. Irgendwie hatte ich einen Kloß im Magen.
Die Sonne fiel aus einer anderen Richtung auf die Wellen und wieder einmal bewunderte ich das Farbspiel, das dabei entstand.
Ich sah viel Silber heute. Die Sonne war kräftig, ich stand im Schatten.
Als ich aus ihm heraus trat, sah ich plötzlich einen satten Goldton, in vielen Nuancen. Den sieht man meist erst am Abend, und mir fielen die vielen Sonnenuntergänge ein, die ich schon erlebt hatte.
Und dann war da auf einmal auch Bronze neben dem hellblau, dunkelblau, schwarzblau und helltürkis.
Was wäre, wenn wir unseren Wellen Medaillen verleihen würden?
Ich kannte aus meiner Zeit als Sportler das Gefühl, als ich eine Bronzemedaille erhalten hatte. Nicht zufrieden war ich gewesen, nur Dritter. So lange trainiert! Soviel Schweiß und Mühe, und nun nur Bronze! Soviel erhofft und ersehnt. Meine Leistung hatte nicht gereicht.
Ich hätte viel besser sein können! Und ich hatte viel mehr erwartet.
Aber später, wenn wieder weniger Adrenalin nach dem Laufen durch meine Adern geflossen war, ich sogar Glückwünsche von den nach mir platzierten Läufern bekam, hatte ich selbst einen Nagel in die Wand meines Kinderzimmers eingeschlagen und die Medaille aufgehängt.
Silber war ganz selten gewesen, und Gold war mir nur einmal vergönnt.
Das hellblauschwarztürkise Leben hatte so viele Bläschen, Strudel , Kämme und Untiefen in der Farbe von Medaillen.
Wir mußten nur irgendwo einen Nagel einschlagen und sie daran aufhängen.

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